Sell in May – and go away.
Der Mai naht. Und wenn Sie dieser Börsenweisheit zu saisonalen Zyklen an der Börse Glauben schenken, wird es höchste Zeit, Ihre Aktien zu verkaufen.
Aber bitte bedenken Sie eins: Die Börse hält sich an keinen Kalender.
Die Jahreszeiten der Börse
Es gibt einfach keinen fixen Tag, an dem die saisonalen Zyklen an der Börse beginnen. Genauso wenig, wie der Sommer tatsächlich immer am 21. Juni auf Knopfdruck seine volle Kraft entfaltet oder der Weinlese immer an einem festen Datum stattfindet. Es kommt eben jedes Jahr anders. So ist es auch an der Börse.
Sicher weisen viele Märkte typische Jahresdurchschnittsverläufe auf: nachwachsende Rohstoffe wie Weizen, Mais und Kaffee sind eher gekoppelt an den Erntezyklus, eine geringere Nachfrage nach Heizöl im Sommer sorgt tendenziell für einen Angebotsrückgang und die Urlaubszeit ist ein Grund dafür, dass die Sommermonate als eher ruhige Zeiten gelten – schließlich gehen Urlaub und Erholung dann vor, der Aktienhandel ist nur zweitrangig.
Die Experten leiten hier pauschale und statische Regeln aus den Daten der vorangegangenen Jahrzehnte ab, wie sie auch im Bauernkalender zu finden sind. Aber auf die vielen unverhofften Ausschläge und besonderen Ereignisse der Vergangenheit weist keiner hin – also die Ausnahmen von der Regel. Dabei gibt es die zuhauf: Die sich wiederholenden saisonalen Zyklen haben beispielsweise jedes Jahr einen anderen Anfangs- und Endpunkt.
Verleiten kommt von leiten
Dennoch lassen sich viele Anleger von diesen vermeintlich festen Regeln (ver)leiten. Ganz so, als würden sie im Juli mit Flipflops aus dem Haus gehen, obwohl es kalt ist und regnet – bloß weil der Kalender sagt, dass jetzt Sommer ist.
Für mich sind solche Regeln nur Scheinkorrelationen – einen kausalen Zusammenhang oder eine feste wechselseitige Beziehung gibt es nicht. Schließlich kam und kommt es zu allen Jahreszeiten an der Börse zu Aufschwüngen und zu Abschwüngen. Grundsätzlich gelten die Wintermonate von November bis April als die besseren Börsenmonate. Aber schauen Sie mal, wie es in diesem Jahr war:
Anfang Januar ging es an der Börse steil bergab. Der nach der Jahreszeit als stark angesehene Monat war plötzlich schwach. Da waren dann natürlich sofort Statistiken zur Hand, die belegen, dass der Januarverlauf große Aussagekraft für den Verlauf der Börse im Rest des Jahres hat. Und übrigens: Hätten Sie in der Finanzkrise 2008/2009 stur auf die starken Wintermonate gesetzt, hätten Sie mächtig Verlust gemacht. Anschließend war es dann auch nicht der Mai sondern der Juni, auf den die Sommerflaute folgte.
Die trügerischen Erfahrungen
Aber nicht nur die als Börsenregeln verbreiteten Allgemeinplätzchen verleiten Anleger zu unglücklichem Verhalten, sondern auch ihre eigenen Erfahrungen. Denn die Erlebnisse der letzten ein bis zwei Jahre prägen erwiesenermaßen Anleger und beeinflussen ihre Börsenentscheidungen. Nach dem größten Börsencrash der Nachkriegszeit im Oktober 1987 beispielsweise fürchteten die Anleger jahrelang den Oktober – der Crash hat sich quasi in die Köpfe eingebrannt.
Nun möchte ich nichts gegen Erfahrungen sagen. Sie sind an der Börse wichtig und hilfreich, aber sie alleine geben Ihnen keine Aufschlüsse für die Zukunft. Und schon gar nicht können Sie Ihre Anlagestrategie darauf aufbauen. Noch viel wichtiger als Erfahrung ist es, die Mechanismen der Märkte zu verstehen. Denn auch wenn an den Regeln etwas dran ist, müssen Sie sie hinterfragen und im Lichte der jeweiligen aktuellen Situation betrachten – und zwar jedes Jahr aufs Neue. Danach zählt einzig und allein Ihre eigene Einschätzung über die Entwicklung der Märkte, die für Ihr Handeln den Ausschlag gibt.
Glauben Sie mir: Jeden Tag werden die Karten an der Börse neu gemischt. Ob Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter – die Jahreszeiten und die Ereignisse an der Börse halten sich an keinen Kalender. Sie aber sollten sich an Ihre eigenen Regeln (und Prinzipien) halten, um an der Börse Erfolg zu haben.